Eine febrile Neutropenie (FN) liegt vor bei einer oralen Temperatur von ≥ 38°C mit gleichzeitig
erniedrigter Granulozytenzahl <1000/µl. Die European Society for Research and Treatment of
Cancer (EORTC) empfiehlt in ihren Leitlinien die Evaluation des FN-Risikos vor jedem Chemotherapiezyklus
und ab einem Chemotherapie-bedingten FN-Risiko von ≥ 20 % eine Prophylaxe mit G-CSF-Präparaten bereits
ab dem ersten Zyklus. Wird das FN-Risiko durch die Chemotherapie zwischen 10%-20% eingestuft,
müssen patientenbezogene Risikofaktoren wie vor allem ein Alter >65 Jahre sowie fortgeschrittene
Erkrankung, schlechter Allgemein- oder Ernährungszustand oder Komorbiditäten in der Bewertung
berücksichtigt werden. Dosisdichte Chemotherapien, wie sie beispielsweise bei
Mammakarzinompatientinnen durchgeführt werden, seien a priori eine Indikation zur
Neutropenieprophylaxe mit G-CSF, erinnerte Link.
Repräsentative Stichprobe zur Neutropenieprophylaxe in Deutschland
Eine repräsentative und anonyme Umfrage als Qualitätssicherungsprojekt der Arbeitsgemeinschaft
Supportive Maßnahmen in der Onkologie, Rehabilitation und Sozialmedizin in der Deutschen
Krebsgesellschaft (ASORS) befasste sich mit der Umsetzung der G-CSF-Leitlinie der EORTC
bei Patienten mit Lungen- oder Mammakarzinom sowie mit malignen Lymphomen [1]. „Vor dem
Hintergrund, dass Ärzte teilweise dazu neigen, ihre persönlichen Erfahrungen über die
Leitlinien zu stellen, die die Summe der wissenschaftlichen Erkenntnisse komprimieren,
sind solche Umfragen ein wichtiger Beitrag, die Bedeutung der wissenschaftlichen Medizin
wieder ins Bewusstsein zu rufen“, kommentierte Link. 195 internistische Onkologen,
onkologisch tätige Pneumologen und Gynäkologen nahmen an der anonymen Umfrage teil und
dokumentierten 666 Patienten mit Lungenkarzinom, 286 Patienten mit malignem Lymphom und
976 Patientinnen mit Mammakarzinom, die in 104 Kliniken und 109 onkologischen Praxen mit
insgesamt 7.805 Chemotherapiezyklen behandelt wurden.
Leitlinientreue variiert nach Indikation und Berufserfahrung der Behandler
Da Chemotherapien zur Neutropenie-Prophylaxe bei nicht kurativer Therapieintention
z.T. mit einer reduzierten Dosis verabreicht werden, wurde die Einhaltung der
EORTC-Leitlinien auch separat bei den Chemotherapiezyklen mit regulärer Dosis
erfasst. Die Leitlinientreue in den Zyklen mir regulärer Dosis bei Patienten mit
hohem FN-Risiko lag bei den Patienten mit Lungenkarzinom nur bei 9,9%. Bei der
Behandlung der Patienten mit Lymphomen und Mammakarzinom war sie mit 84,1% bzw.
86,7% deutlich höher. Lag nur ein mittleres FN-Risiko vor, betrug die Leitlinientreue
in allen Chemotherapiezyklen 38,8% beim Lungenkarzinom, 49,3% beim Mammakarzinom und
59,4% beim malignen Lymphom. Dass G-CSF bei Patienten eingesetzt wurde, bei denen die
Neutropenieprophylaxe nicht nötig gewesen wäre, kam vor allem bei Mammakarzinompatientinnen vor.
17,6% erhielten G-CSF, obwohl keine patientenbezogenen Risikofaktoren vorlagen oder
die Dosis bereits reduziert worden war. „Gerade bei Mammakarzinompatientinnen, die
sich meist in sehr gutem Allgemeinzustand befinden, überrascht diese Überbehandlung“,
sagte Link. Sowohl zwischen den behandelnden Zentren als auch zwischen den einzelnen
Berufsgruppen ergaben sich bei der Leitlinientreue große Unterschiede. Insgesamt
hielten sich Pneumologen nicht so häufig an die Leitlinien wie die anderen Berufsgruppen.
„Aber Pneumologen mit weniger als 22,5 Jahren Berufserfahrung hielten sich besser an die
Leitlinien als dienstältere Kollegen, genauso wie Gynäkologen oder Hämatologen, die
weniger als 8,1 Jahre im Beruf waren. 85,1% der befragten Mediziner gaben an, die
C-CSF-Leitlinien regelmäßig anzuwenden und überschätzten damit ihre Leitlinientreue
deutlich. „Insgesamt wurden patientenbezogene Risikofaktoren unterbewertet, was zu
einer Unterbehandlung mit G-CSF führen kann“, fasste Link die Ergebnisse zusammen.
Leitliniengerechte Prophylaxe mit G-CSF muss konsequenter umgesetzt werden
Derzeit wird die Umfrage der ASORS für die Indikationen Mamma- und Lungenkarzinom
wiederholt. „Außerdem werden im Rahmen der ASORS Fortbildungskonzepte entwickelt,
um auch die Ärzte zu erreichen, die sich nicht um Leitlinien kümmern“, ergänzte Link.
Abschließend erinnerte das Vorstandsmitglied der ASORS daran, dass eine Dosisreduktion
oder eine Intervallverlängerung bei der Chemotherapie um 10-15%, bei Mammakarzinom
und malignen Lymphomen eine Verschlechterung des progressionsfreien und des
Gesamtüberlebens nach sich ziehe und forderte, eine Verringerung der Dosisintensität
nur bei selektierten Patienten in Erwägung zu ziehen. Der Supportivtherapie mit G-CSF
sei generell der Vorzug zu geben. „Uns steht hier ein gutes, durch Leitlinien
empfohlenes Verfahren mit jahrelang bewährten Medikamenten zu Verfügung, um
Komplikationen durch Neutropenie nach Chemotherapie zu vermeiden“.
Therapielücke bei Radiojod-refraktären Schilddrüsenkarzinomen
Das Schilddrüsenkarzinom ist der häufigste endokrine Tumor, wobei das differenzierte
Schilddrüsenkarzinom (DTC) eine sehr gute Prognose hat. „Die Radiojodtherapie nach der
Operation ist Standard bei differenzierten Schilddrüsenkarzinomen, die gute Prognose
ist vor allem auf ihre Effektivität zurückzuführen“, erklärte Prof. Matthias Weber (Mainz).
Allerdings verlieren 25-40 % der fortgeschrittenen DTC ihre Radiosensitivität.
„Diese Patienten haben mit einer medianen Überlebenszeit von 2,5-3,5 Jahren eine
schlechte Prognose. Eine Chemotherapie mit Doxorubicin hat hier nur eine sehr
begrenzte Wirksamkeit und ist ausgesprochen toxisch, so dass für diese Therapiesituation
ein großer medizinischer Bedarf bestand“, sagte Weber.
Signifikante Verlängerung des PFS durch Sorafenib
Der Großteil der DTC sind papilläre Karzinome, bei denen zu über 70 % molekulare
Veränderungen nachweisbar sind, meist BRAF oder RAS-Mutationen. Mit der Zulassung
von Sorafenib im Mai 2014 wurde erstmals eine molekular zielgerichtete Substanz beim
Radiojod-refraktären DTC zugelassen. Der Multityrosinkinaseinhibitor hemmt den
Raf-Signalweg und wirkt außerdem antiangiogen durch die VEGF-Signalhemmung. In
der Phase-III-Studie DECISION, auf der die Zulassung von Sorafenib beim DTC beruht,
nahmen 417 Patienten mit Radiojod-refraktärem lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem
DTC teil [2]. Sie erhielten entweder 2 x täglich 400 mg Sorafenib oder Plazebo bis zum
Progress oder nicht tolerabler Toxizität. Primärer Studienendpunkt war das
progressionsfreie Überleben (PFS). Ein Crossover zu Sorafenib war den Placebo-Patienten
bei einem Fortscheiten der Erkrankung erlaubt. Das mediane PFS war unter Sorafenib mit
10,8 Monaten fast doppelt so lang wie im Placebo-Arm (5,8 Monate) (p<0,0001, HR:0,587).
„Mit Sorafenib hatten die Patienten ein um rund 40% geringeres Progressionsrisiko“,
kommentierte Weber. 12,2% der Patienten unter Sorafenib erreichten ein partielles
Ansprechen, das im Median über 10,2 Monate anhielt. Bei 54,1% der mit Sorafenib
behandelten Patienten konnte eine Krankheitskontrolle (partielles Ansprechen und
Krankheitsstabilisierung für mindestens 6 Monate) erzielt werden. Der Vorteil der
Behandlung mit Sorafenib beim PFS zeigte sich bei allen vordefinierten Subgruppen
und war u.a. unabhängig von der Histologie, der Tumorgröße (≥ 1,5 cm und <1,5cm)
sowie von BRAF- bzw. RAS-Mutationen. „BRAF-und RAS-Mutationen waren damit keine
Prädiktoren für eine PFS-Verlängerung durch Sorafenib“, konstatierte Weber. Aufgrund
des Crossover-Designs der Studie zeigte sich beim Gesamtüberleben kein signifikanter
Unterschied. Wenn man den Crossover-Effekt statistisch herausrechnet, zeige sich beim
Gesamtüberleben jedoch ein positiver Trend für Sorafenib, wie Weber hinzufügte.
Die in der DECISION-Studie auftretenden Nebenwirkungen entsprachen dem langjährig
bekannten Profil der Substanz. Am häufigsten waren Hand-Fuß-Hautreaktionen, Diarrhoe,
Alopezie sowie Hautausschläge und Hautabschuppung. „Aufgrund der langen Behandlungsdauer
sind ein effektives Nebenwirkungsmanagement und eine engmaschige Betreuung der
Patienten wie bei allen Tyrosinkinaseinhibitoren absolut notwendig, erklärte Weber.
Aufgrund unspezifischer Symptome oft übersehen: leptomeningeale Metastasen
„Die Behandlung von Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung und leptomeningealen
Metastasen ist eine der großen therapeutischen Herausforderungen der Zukunft“, erklärte
Prof. Dr. Tobias Pukrop (Regensburg). Ein großes Problem bestehe bereits in der Diagnostik
dieser schweren Komplikation fortgeschrittener Tumorerkrankungen. Die Symptome der diffusen
metastatischen Ausbreitung von Tumorzellen im Subarachnoidalraum sind außerordentlich
vielfältig und unspezifisch. „Eine leptomeningeale Metastasierung hat symptomatisch
sehr viele Gesichter. Eine Reihe von Symptomen wie Kopf- und Rückenschmerzen, Übelkeit,
Visusstörungen, Krampfanfälle, Sensibilitätsstörungen oder Blasen- und Mastdarmstörungen
und vor allem die Kombination verschiedener Symptome sollte bei Tumorpatienten Anlass
zur raschen Durchführung einer geeigneten Diagnostik sein“, so Pukrop. Diese beruht
zum einen auf einem kontrastmittelgestütztem MRT des Schädels und der gesamten Wirbelsäule,
zum anderen auf der Lumbalpunktion und dem nachfolgenden Nachweis von Krebszellen im
Liquor. „Die Liquorpunktion sollte dreimal durchgeführt werden, um die Sensitivität
zu erhöhen, eine einmalige Liquorpunktion reicht nicht aus“, erläuterte Pukrop.
Therapieoption intrathekale Chemotherapie mit liposomalem Cytarabin
Das Verteilungsmuster der malignen Zellen im Subarachnoidalraum kann adhärent,
nicht-adhärent oder eine Kombination aus beidem sein, so dass unterschiedliche
Therapieformen angewendet werden. Während bei einer adhärenten Meningeosis und
soliden ZNS-Metastasen eine Strahlentherapie zum Einsatz kommen kann, muss beim
nicht adhärenten oder disseminierten Typ der Liquorraum medikamentös therapiert
werden. „Das ZNS und das Gehirn sind allerdings ein durch die Blut-Liquor-Barriere
besonders geschütztes Kompartiment“, erklärte Pukrop. So finden sich im Gehirn nur
noch Spuren der meisten systemisch verabreichten Chemotherapeutika. Intrathekal
können Chemotherapeutika über eine Lumbalpunktion oder intraventrikulär über ein
Portsystem (Ommaya-Reservoir) appliziert werden. Gängige Substanzen für die intrathekale
Chemotherapie sind Methotrexat (MTX) und Cytarabin, die zwei- bis dreimal wöchentlich
verabreicht werden müssen. Liposomal verkapseltes Cytarabin (DepoCyte®) muss nach vier
initialen Anwendungen im Abstand von zwei Wochen nur noch alle vier Wochen gegeben
werden und verteilt sich im Liquorraum deutlich besser und gleichmäßiger. „Die
Nebenwirkungsraten und die Arachnoiditis-Inzidenz sind bei liposomalem Cytarabin
leicht erhöht, und die Zulassung umfasst leider nur die Meningeosis lymphomatosa,
also nicht die leptomeningeale Aussaat solider Primärtumoren“, erläuterte Pukrop.
Begleitend sollte grundsätzlich Dexamethason gegeben werden, um Risiko und Schwere
einer Arachnoiditis zu verringern.
Rechtzeitige Therapie verbessert Lebensqualität und kann Überlebenszeiten verlängern
Die durch leptomeningeale Metastasierung solider Tumoren hervorgerufene Meningeosis
geht unbehandelt mit einer Lebenserwartung von 6-8 Wochen und einer stark eingeschränkten
Lebensqualität einher. Mit einer rasch eingeleiteten Therapie könne jedoch nicht nur
eine Linderung der belastenden Symptome, sondern auch eine deutliche Verlängerung der
Überlebenszeit erzielt werden – aus diesem Grund sollte der Reflex zu einer rein
palliativen Behandlung überdacht werden, forderte Pukrop. Zusätzlich zur intrathekalen
Chemotherapie sollte auch immer eine systemische Chemotherapie in Erwägung gezogen werden,
sagte er weiter und verwies auf eine aktuelle Studie, die bei Patientinnen mit Mammakarzinom
und leptomeningealer Metastasierung gezeigt hatte, dass die systemische Chemotherapie zu einer
Verlängerung des Überlebens geführt hatte. Mit der intrathekalen Chemotherapie mit liposomalem
Cytarabin oder MTX konnte eine Symptomlinderung erzielt werden [4]. Aufgrund der verbesserten
Kontrolle von Tumorerkrankungen in der Peripherie ist von einer weiteren Zunahme von
Patienten mit leptomeningealen Metastasen auszugehen, wie sie vor allem bei Patienten
mit Lungen- oder Mammakarzinom sowie beim Melanom häufig auftritt. „Wichtig ist, daran
zu denken und eine rasche Therapie einzuleiten, so dass wir unseren Patienten ein
verlängertes Überleben, vor allem bei verbesserter Lebensqualität bieten können“,
forderte Pukrop abschließend.
Mascha Pömmerl, Feldkirchen-Westerham
Quelle: 31. Münchener Fachpresse-Workshop „Supportive Therapie und Onkologie“ Literatur:
der POMME-med GmbH am 30. September 2015 in München.
[1] Link H, Nietsch, Kerkmann M, et al. 2015. Adherence to granulocyte-colony stimulating factor (G-CSF)
guidelines to reduce the incidence of febrile neutropenia after chemotherapy – a representative
sample survey in Germany. Support Care Cancer 2015 Jun 17.[Epub ahead of print];DOI 10.1007/s00520-015-2779-5.
[2] Brose MS, Nutting CM, Jarzab B, et al. 2014. Sorafenib in radioactive iodine-refractroy, locally
advanced or metastatic differentiated thyroid cancer: a randomized, double-blind, phase 3 trial. Lancet 384:319-328.
[3] Brose MS, Jarzab B, Elisei R, et al. 2014. Updated overall survival analysis of patients with
locally advanced or metastatic radioactive iodine-refractory differentiated thyroid cancer
(RAI-rDTC) treated with sorafenib on the phase 3 DECISION trial. J Clin Oncol 32 (suppl; abstr 6060).
[4] Niwinska A, Rudnicka H, Murawska M, et al. 2015. Breast cancer leptomeningeal metastasis:
the results of combined treatment and the comparison of methotrexate and liposomal
cytarabine as intra-cerebrospinal fluid chemotherapy. Clin Breast Cancer 15:66-72.
Oktober 2015 |
Literaturreferate
Capecitabin zu Anthrazyklin- und Taxan-basierter neoadjuvanter Therapie bei primärem Brustkrebs
Paclitaxel dosisdicht bei fortgeschrittenem Ovarialkrebs